„Gott schaute in die Tora und schuf die Welt.“ Zu Elazar Benyoëtz‘ neuem Buch „Scheinhellig“

Das Bedürfnis nach Konsistenz, nach Stimmigkeit, ist insgeheim das Bedürfnis nach einer heilen Welt. Ohne es kann Vernunft nicht rückhaltlos aufklären: über die Welt wie über sich selbst.

Christoph Türcke: Kassensturz. Zur Lage der Theologie

Intro

In Zvi Kolitz‘ Erzählung Jossel Rakovers Wendung zu Gott (1946) formuliert der imaginäre Titelheld sein folgenreiches Bekenntnis:

Ich habe Ihn [den Gott Israels] lieb. Doch Seine Thora habe ich lieber. Selbst wenn ich mich in ihm getäuscht hätte, Seine Tora würde ich weiter hüten. Gott heißt Religion. Seine Tora aber bedeutet eine Lebensweise! Und je mehr wir sterben für diese Lebensweisung, so unsterblicher wird sie werden.

Es geht bei Kolitz um die Frage der Möglichkeit eines Glaubens nach Auschwitz. Die Antwort ist dann doch älter: Bereits Heinrich Heine erkennt in der Schrift das „portative Vaterland“ der Juden. Hier reiht sich auch Elazar Benyoëtz ein, wenn er schreibt:

„Gott schaute in die Tora und schuf die Welt nach diesem Plan.“ (S. 37)

Als unentbehrliches Überlebensmittel erscheint bei ihm – zusätzlich zur Tora, den fünf Bücher Mose – die gebundene Rede der Psalmen. Diese lyrische Form erst verbindet die Gegenwart mit der Vergangenheit und der Zukunft:

Ohne Tora gäbe es kein Judentum, ohne Psalmen könnten die Juden die Tora aber nicht so weit durch die Zeiten tragen.

Erst die Psalmen erscheinen aus dieser Sicht als persönlicher und zugleich verbindender Ausdruck von Trauer und Lebensfreude, von Sehnsucht, Leid und Zauber. Für Benyoëtz ist dieser Horizont erweitert um seinen jüdische-deutschen Talmud, die jüdische Literatur deutscher Sprache.

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Scheinhellig ist ein Buch über den ästhetischen Schein und über das Verhältnis des Menschen zu sich und den anderen, über das Religiöse also, über das „verlorene Thema“. Als gescheitert sieht Benyoëtz die bürgerliche Kunstreligion an. Seit der deutschen Frühromantik war dies, besonders in Deutschland, einmal State of the art: Kunstreligion, das war in den Generationen von Schlegel über Nietzsche bis Adorno und seinen Schülern der Versuch, metaphysische Wahrheiten ästhetisch zu bewähren.

Wegweisend für ein Verständnis dieses Buchs ist der Begriff der »Variationen«, der hier, wie so oft bei Benyoëtz, nicht einen Inhalt bezeichnet, sondern eine Kunstformen auf Lebensformen zurückführt. Sie folgt der Tendenz der modernen Künste zu Variationen, in denen, nach Adornos Philosophie der neuen Musik, überlebe, »was sonst vergessen ist(,) und unmittelbar nicht mehr zu reden vermag«.

Der Gedanke, dass Kunst Offenbarung von Wahrheit sei, diese aber lediglich in einer ihr unwesentlichen, nämlich sinnlichen Form zum Ausdruck bringe, ist der Grund für die Ambivalenz, mit der sich Kunstreligion zwischen Hegels Ästhetik und Adornos Ästhetischer Theorie zu artikulieren pflegte: Alles, was demnach positiv zum Ausdruck  kommt, erscheint demnach als trügerischer Vorschein einer besseren Welt. Anschaulichkeit gilt der künstlerischen Intelligenz daher seit über 100 Jahren schon als trivial. Was gilt, ist allenfalls das Ephemere einer schnelllebigen urbanen ästhetischen Erfahrung nach dem Vorbild Baudelaires und der Symbolisten. Seither  dominierten Epiphanien mit einem zeitlichen Index. Benyoëtz‘ „Variationen über ein verlorenes Thema“ – das Religiöse – üben im Sinne Adornos Negativer Dialektik „Solidarität mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“. Das verlorene Thema wieder zu finden oder seinen Sinn zu erneuern, steht nicht in der Macht von Aphoristik, und selbstredend auch nicht in der dieser Besprechung.

Es erscheint hingegen nicht abwegig, auf dieser Spur das Thema, das Benyoëtz hier variiert, zu politisieren. Dafür spricht der Auftakt, in dem Bezüge zur Conditio humana überdeutlich sind, so in einem der präludierenden Zitate. Es stammt von Hermann Broch:

„Alles was geschieht – das wird immer deutlicher und deutlicher – ist ein Ringen um die neue Religiosität und dies ist wahrscheinlich auch das einzige, was den Menschen wahrhaft interessiert, mag es auch danach aussehen, als wäre die Weltwirtschaft das einzig Interessante.“ (S. 7)

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Exkurs: Mein verlorenes Thema

Von Mazzino Montinari (1928-1986), neben seinem Lehrer Giorgio Colli (1917-1979) Erstherausgeber der alleingültigen Werkausgabe Nietzsches, ist folgende Anekdote überliefert: Man fragte ihn während der marxistisch inspirierten Wiederentdeckung von Nietzsches Kunstphilosophie in Italien, in den späten 1960er Jahren, was ihn und Colli ausgerechnet an Nietzsche interessiert? Die Antwort des italienischen Katholiken war ein Luther-Zitat: „Das Wort sie sollen lassen stán.“

Montinari und Colli waren Männer des antifaschistischen Widerstands, zumindest Montinari ist bis zum Ende seines Lebens Marxist und Kommunist geblieben. Die Revolution beginnt als Revolte im Kopf. Dort betrifft sie zuerst die Sprache.

Lebendige Rede herstellen bedeutet, das Denken vom Kopf auf die Füße stellen – eine eigenwillige Marx-Auslegung. Ist das nicht das nächste verlorene Thema? Immerhin: Bei solchen Anregungen meiner intellektuellen Pubertät begann unabhängig von Nietzsche mein Umgang mit Sprache, Rede und Texten, der mich bis heute – diesseits des Repertoire-Theaters von Konfessionen, Eiferern und Sektierern – zur Sprachfrömmigkeit anhält.

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Hier ist von vorsprachlichen Präokkupationen die Rede, von denen wir doch allein ihren sprachlichen Niederschlag kennen. Der Dichter zögert hier. Und dieses Zögern hat Paul Valéry in einem Aphorismus zum Merkmal des Gedichts erhoben:

Le poème – cette hésitation prolongée entre le son et le sense.

(Das Gedicht – dieses verlängerte Zögern zwischen dem Laut und dem Sinn.)

Heute ist Elazar Benyoëtz auf ähnliche Weise wie Valéry vor 100 Jahren der reflektierteste Virtuose des ästhetischen Scheins, dessen Doppelsinn von metaphysischen Vorschein und Täuschung sich schon im Titelwortspiel „Scheinhellig“ artikuliert. Sein Werk steht an einem Ort, der für ihn publizistisch zur Heimat geworden ist: aus der hebräischen Lyrik kommend, am Übergang zur artistischen Prosa deutscher Sprache.

Die Legierung dieser Ästhetik ist eine stets schon Negative Theologie. Sie liegt in der semiotischen Aufklärung durch das Bilderverbot des Tanach begründet:

„Aller Kult tendiert zu künstlicher Vollendung. Diese wird notwendig zur Vollendung des Gottesbildnisses, das somit entlarvt wird. Was man in Handwerk und Kunstfertigkeit vollenden will, wird als Vollendung im Bilde (Gottes) selbst geglaubt. Die Kunst macht glauben und lässt den Menschen im Bilde dieses Glaubens allein sein“ (S. 79)

Die Skepsis gegen den apollinisch eingefriedeten Bereich der klassisch-idealistischen Kunstformen teilt er mit Edmond Jabès, der einzig die gebrochene Form gelten ließ.

Das verlorene Thema, das ist eine vergessene Zone der Intensität, die dem „totgesagten Park“ Stefan Georges gleicht. Dem „Hier und Jetzt“ der Künste fehlt ein Ort in einer Welt, die nach Schätzungen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen mit 40 Millionen Flüchtlingen aller Art und Herkunft lebt.  Aus dieser Sicht geht es um eine Welt, die weniger einem in den Weltmaßstab vergrößerten „globalen Dorf“ als einem Lager gleicht. Mir scheint diese Erinnerung an die conditio humana nicht ganz abwegig zu sein, um den Umstand zu erklären, daß ortsbezogene Realpräsenz in der Poesie des 20. und 21. Jahrhunderts  selten eine gelungene Rolle spielt. Anschauung gilt seither in den Künsten überhaupt als ästhetisch fragwürdig. In diesem Sinn hat Walter Benjamin die Sprache als „ein Archiv unsinnlicher Ähnlichkeiten“ bezeichnet, eine These, deren Formulierung gegen sich selbst rebelliert: Er gebraucht das Bild des „Archivs“, um die behauptete Tendenz zur Entsinnlichung des Worts im Zeitalter der Information zu unterlaufen. Wo hingegen sonst allzu stark die Sinne ins Spiel kommen, geraten alle positiven Bilder von Einbildungskraft selbst in den Bann der Grenzen, deren Heilsamkeit sie beschwören. Positive Bilder, das heißt in der Literatur: geschlossene Formen. Radikal hat dies bereits 1916 der frühen Georg Lukács in seiner Theorie des Romans in seinem Verdacht gegen die klassisch-bildungsbürgerlich gerundeten Kunstformen ausgesprochen:

„Die hierarchische Frage von Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit ist das ethische Problem der Utopie.“

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Die Aphoristik und Montagetechnik von Benyoëtz scheint in ihren nicht-hierarchischen, sondern von Nebenordnung geprägten, Verhältnissen vor dem Verdacht geschützt, letzte Weisheit zu verkünden. Zumindest für das Bürgertum im Zeitalter der Ideologen aber waren Sinnsprüche und geschlossene Formen der Spiegel, mit dem es über sich ins Reine kommen wollte. Heute sind Sinnsprüche, so scheint mir, bei naturwissenschaftlichen, allenfalls noch philosophischen Medien-Experten besser aufgehoben. Ihnen traut das Massenpublikum eher als den künstlerischen Intelligenzen zu, zu deuten, was die Welt im Innersten zusammenhält. Wer auf Qualität und politische Moral Wert legt, den werden alle positiven Bilder vom Menschen und seiner Geschichte ohne Ausnahme abstoßen. Er wird es mit dem Partisanen des Kunstfilms Jean-Luc Godard halten. Gefragt, warum seine Film, keinen klaren Anfang, keinen Mittelteil und kein Ende haben, antwortet er dialektisch: „Ein Film sollte einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende haben – aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.“

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In Scheinhellig begegnen sich das Poetische und das Religiöse als Verhältnisformen eines Menschen zu sich und den anderen, die Freiheitsimpulse wecken, sich bewähren oder nicht, jedenfalls Vertrag und Verrat begründen. Entsprechend wird man sich an die Verkehrsformen und die kumulierenden Begegnungen und Lektüren des Autors halten können, die in diesem zitatenreichen Werk ihren Niederschlag finden. Deutlich ist durchweg eine Haltung, in der die Lehre als reflektierte Praxis gilt:

„Die Thora ist die Lehre, die vierzig Wüstenjahre aber die Schule.“

In dieser mal ausgelassenen, mal stoischen Heiterkeit der letzten Dinge bleibt er dann auch nicht befangen in Negativer Theologie, an der er zweifellos Anteil hat. Geht man von Moses Maimonides‘ aus, erkennt man die Dinge am besten durch das, was sie nicht sind. Dies gilt auch für Benyoëtz. Und sicher läßt sich an seiner Sprache feststellen, dass er wie Walter Benjamin und andere dunkle Interessenten der Negative Theologen und der Mystiker der Bestimmung aus dem Unterschied seine luzidesten Einsichten verdankt.

Die lyrische Aphoristik erscheint dann als die subjektivste Form. Wie sonst nur das symbolistische Gedicht hat sie häufig sich selbst zum Gegenstand. Auf die anarchische Selbst-Auslieferung hin, so die Hoffnung, die sich mit einem solchen Impuls verbinden mag, bricht die entfremdete Seite der Gesellschaft auf. Er ist also von seinen Anfängen an nicht daran interessiert, zu metaphysischen Überhöhungen des geschichtlichen Prozesses gleich selbst die Anleitung zu geben. Es geht ihm vielmehr um eine Zersplitterung der Oberfläche in vielschichtige Sprachwahrnehmungen, die zeigen, was von einstiger Größe oder Hoffnung übriggeblieben ist. Ästhetisch umstritten ist seine Neigung zum Klangwortspiel, zur Amphibolie. Neuerdings will Chaim Vogt-Moykopf in dieser habituellen Eigenart aber eine „Degermanisierung“ des Deutschen erkennen:

„Il s’agit d’une tentative de dégermaniser l’allemand, de réorganiser sa structure et son vocabulaire, bref de l’hébraïser.“

Hier kann nur auf eine ausstehende Debatte hingewiesen werden. Allerdings erscheint mir diese Art der Politisierung zu vage, ähnlich wie der mit Heideggers ontologisierender Wortspielerei begründeten Präokkupationen gegen Klangwortspiele, die vielleicht nur auf harmlose kulturelle Unterschiede zwischen Nordeuropäern und mediterranen Menschen verweisen. Allemal erweist sich hier Peter Szondis Diktum gültig, dass philologische Erkenntnis nicht den Text in die Geschichte zu stellen, sondern die Geschichte im einzelnen Text aufzuzeigen hat.

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Benyoëtz‘ jüdisch-deutscher Talmud wird in der jüngeren Forschung vielfach als Negative Theologie oder Mystik verstanden, ohne dass dieser Hinweis intertextuell belegt oder durch ideengeschichtliche Fluchtlinien konkretisiert würde. In der Tat ähnelt sein Vorgehen dem, was etwa der evangelische Theologe Rudolf Otto (Das Heilige, 1917) oder Aby Warburg, der Pionier der Bildwissenschaft, mit seinem Bildatlas Mnemosyne zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts im Sinn hatten, als sie die Kontinuität von archaischen Erfahrungswelten und ihren medialen Verkehrsformen mit Begriffen wie Ideogramme oder Pathosformeln zu umschreiben suchten. In den vergangenen Jahrzehnten wandelte Jean Starobinski mit seinen Büchern über die Embleme der Französischen Revolution und der Aufklärung auf dieser Spur. Stets sind solche Zeugnisse von einer eigentümlichen Mischung aus animalischer Angst und einer an Ausgelassenheit grenzenden Faszination gekennzeichnet. So auch bei Benyoëtz.

Anfangs erinnert er an die 1962 in Tel Aviv begründete Zeitschrift Prozdor (Vorhalle), an der er mitwirkte; „Gott gewidmet“, will sie den Glauben anstacheln, seinen Wortbestand erschüttern. Deutlich knüpfte er dann schon vor seinem Wechsel der Literatursprache an die expressionistischen Aufbrüche in der deutschen Literatur an, zu der im Bereich der jüdischen Erneuerungsbewegungen nach dem Ersten Weltkrieg Franz Rosenzweig in seinem Stern der Erlösung oder mit Martin Bubers in der ‚Verdeutschung‘ der Schrift beigetragen. Diese frühe Neigung zum Expressionismus begegnete mir auch in seiner kürzlich bei Brockmeyer unter dem Titel Vielzeitig erschienenen Auswahl aus seinem extensiven Briefwechsel deutlich.

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Benyoëtz ist ein Autor, bei dem höchste Kunstfertigkeit ein eigentümliches Spannungsverhältnis eingeht mit dem sehr starken Bedürfnis, Zeugnis von Begegnungen mit Sätzen und Menschen abzulegen, die in seinen Aphorismen und Montagen fortleben. Das „verlorene Thema“ wird bei Wort genommen, und das hier: beim Zitat aus einem reichen Erbe der Weltkultur. Die Vielfalt der dabei entfalteten bedeutungskonstituierenden Möglichkeiten von Zitaten lassen sich kaum andeuten; noch weniger sind sie bislang vorgestellt und untersucht worden. Einige davon sind:

–        Die Zitierten sind vergessene, die Zitate stets überraschend. Durch diese homiletische Gabe werden die Zitierten dem Vergessen entrissen.

–        Zitate werden zum Medium erinnerter Beziehungen, so im einleitenden „Widmungsblatt“ (S. 13)

–        Zitate werden über ein gemeinsames Wort kombiniert:

„Was Einer weiß,

ist immer das Beste.

Die Edda

Einer war Abraham…

Ezechiel 33,24“ (S. 17)

–        Zitate werden Partnern eines inneren Dialogs mit den aus früheren Büchern von Benyoëtz schon bekannten generischen Namen Kosal Vanít und Lazarus Trost (S. 7) zugeschrieben

Im Nachwort des Autors heißt es, auch im Sinne einer Lese-Orientierung: „Zitieren heißt hervorrufen und vernehmbar machen, was besagen will, dass die Toten nicht auch wörtlich tot sind. Zitieren heißt auch weiterführen.“ (S. 244)

Es gehört zu dieser Art der ästhetischen Organisation, dass der Autor auch sich selbst zitierend weiterführt: „Manche Aphorismen dieses Buches“, schreibt er, „standen schon einmal, in einem anderen Zusammenhang, zwischen anderen zwei Deckeln, auf ihrem verloren scheinenden Posten.“ – Was verloren ist, findet,  jedenfalls nach Hegelscher Lesart , seinen „Niederschlag“ in der Form: Die aphoristische Isolation und die musikalisch-montagehaften Kombination mit Zitaten verweisen auf das „verlorene Thema“  von Scheinhellig.

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Der Romancier Dan Tsalka hat auf Benyoëtz‘ halachische Gabe des Zitierens hingewiesen, die ihm auch einen Satz von Montaigne lesen lasse, wie man ihn noch nie gelesen habe. Er könnte, so Tsalka, wie Walter Benjamin in seinem Passagenwerk, der mit einem ähnlichen melancholischen Wortgedächtnis geschlagen, also gesegnet war, auch ein Buch nur aus Zitaten schreiben.

Wie Benjamin ist Benyoëtz bei alldem alles andere als ein Gesinnungsautor: Er kann beim Wort im Satz verweilen, ohne bei jeder Wahrnehmung einer Person, einer Aussage, einer Empfindung oder einer luziden Eingebung des Augenblicks, sofort zu exzessiven weltanschaulichen Deutungen und salbadernden Überhöhungen ausholen müsste, wie dies auf dem Feld der christlichen Homiletik und ihrer Literatur allzu oft begegnet. Sein Gespür für die Stelle, an der ein Satz, eine Wahrnehmung keine weitere Ausführung erlaubt, ist bereits in den 1970er Jahren zum Kennzeichen des Autors geworden.

Dabei ist die Allgemeine Geschichte bis in ihre sprachliche Verschalung überdeutlich: In der symbolischen Kultur des Deutschen erscheint das Jüdische etwa bei Heinrich Heine als sinnlich bis zur hedonistischen Ekstase, dann wieder wie bei Karl Kraus als strengstes Sprachgericht, mal sprachverlegen, dann wieder bilderreich, Punkt für Punkt im Gegensatz zu einer deutschen Mentalität, der das Authentische und Identische als höchste Werte gelten. Das ist umso bemerkenswerter, weil sich diese Konstellation von ästhetischer Ekstase im Widerstreit mit politischer Moral heute selten mehr in Werken zeigt, sondern sich in Schwundstufen eines Habitus von zwiespältigen Menschen allgemein niederschlägt, denen Benyoëtz eine Sprache gibt.

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Was das spezifisch Poetische angeht, ist es die lyrische Verdichtung, selbst im Anekdotischen oder im wörtlichen Wahrnehmen von Personen und kulturellen Differenzen und ihren tiefgestaffelten Traditionen, die mir literarisch nun schon seit 22 Jahren besonders zusagt: Benyoëtz schreibt – mit einer glücklichen Formel des Romanisten Werner Helmich – erbaulich, ohne trivial zu sein. So entgehen sie aber auch jener zweiten, von Lukács profilierten Gefahr der „Desillusionsromantik“, der „Selbstauflösung der Form in einen trostlosen Pessimismus“ oder, gattungsspefizifischer, in der entlarvenden Haltung nach dem Muster, das Karl Kraus mit seinen Aphorismen Sprüche und Widersprüche gibt. Adorno wird diese Scheu vor dem abgegriffenen Wort von seinem Lehrer Kraus erben, sich eine Lehre vom richtigen Leben versagen, und stattdessen nur noch Minima Moralia formulieren, deren fragmentierte Form aber doch den Gedanken an die Wahrheit wachhält. In dieser Tradition formuliert Gert Mattenklott 1968 in Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang:

„Ergriffen und furios bewegt von der geschichtlichen Möglichkeit, redet die Avantgarde oft in der Form ekstatisch und leidenschaftlich in der Sprache der Körper, aber illusionslos und resigniert dem literarischen Wortsinn nach.“

Auf ähnliche Weise ist, wie man weiß, Kohelet, der Hamlet der Bibel, für Benyoëtz der wichtigste Ansprechpartner: Auch er leidenschaftlich dem Hier und Jetzt verpflichtet, auch wenn seine Worte nach ihrem positiven Sinn illusionslos und resigniert sind. So schaffen sie sich ihren übersinnlichen Leib:

„‚Durch tiefes Denken‘ – sagt Hippel – ‚gewöhnen wir unsere Seele zu einer Art Existenz außerhalb des Körpers.‘“ (S. 27)

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Eine Antwort to “„Gott schaute in die Tora und schuf die Welt.“ Zu Elazar Benyoëtz‘ neuem Buch „Scheinhellig“”

  1. fabriziocaramagna Says:

    „Meravigliosa“ Rezensionen!

    F. Caramagna

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